Wut im Bauch
Als ich ein kleines Mädchen war, ließ ich gerne meinen Frust und meine Wut an der naheliegenden Wiese aus, indem ich unkontrolliert Grasnarben aus ihr
riss.
Erwischt
Bei einer dieser Aktionen beobachtete mich zufällig eine Frau aus der Nachbarschaft. Statt mich anzubrüllen, erzählte sie mir von winzigen Wiesenelfen und Kräuterfeen, die jetzt heimatlos im Gras herum irren würden. Sie bat mich ihr zu helfen und alles wieder etwas herzurichten. Die Aufräumaktion sollte die kleinen Naturgeister trösten. Ich konnte diese Wesen zwar nicht sehen, sah allerdings den verursachten Schaden ein und unterstützte die Frau in ihrem Vorhaben.
Während wir Regenwürmer zurück in die Erde legten, erklärte Sie mir wofür Würmer eigentlich gut sind. Sie erzählte, was diese Wasserflüchter für einen Auftrag hätten und das sie Tunnelarbeiter der Elfen wären. Sie berichtete ebenfalls von Pilzwächtern, Klee-Orakeln und unzähligen anderen Dingen, welche alle auf dieser Wiese lebten. Vor Spannung merkte ich gar nicht wie die Zeit verging und meine Wut verflog.
Entdeckung
Meine kindliche Neugier wurde auf eine kleine, zarte, gelbe Blume mit weißen Kränzchen gerichtet. Die nette Frau wusste über diese Pflanze viel zu erzählen.
Es war ihre Lieblingsblume - ein Gänseblümchen.
Und was diese Pflanze alles kann und ist! Das Gänseblümchen ist Elfenwippe, Feenbett und Sonnenstrahlfängerin. Es hält Fußtritte aus und es ist okay, wenn man ein paar von ihnen pflückt - aber(!) - immer genug stehen lassen. Stell dir vor, es gibt irgendwann keine mehr - wäre das schade!
Sie berichtete, das die Gänseblümchen uns Menschen helfen können.
Man darf und kann sie nämlich essen! DAS war die beste Aussage aller Zeiten!
Soweit ich wusste, war Blumen essen verboten. Natürlich wollte ich sofort ein Gänseblümchen probieren. Allerdings hielt mich die nette Frau erst einmal davon ab, weil ich zuvor etwas darüber wissen müsse, was so ein Gänseblümchen dann mit mir macht.
Unverhoffte Langzeitwirkung
Ich fragte: "Und was machen die Gänseblümchen bei mir?"
Die Dame antwortete: "Wenn du traurig bist, trösten sie dich ein bisschen. Wenn du schlapp bist, machen sie dich stärker. Wenn du wütend bist, es sich dunkel und kalt in dir anfühlt, lassen sie ihre Sonnenstrahlen für dich frei und machen es in dir etwas heller und wärmer. Wenn du auf der Wiese liegst darfst du ihnen all deine Sorgen und Wünsche erzählen, sie sagen es keinem. Wenn du eins isst, wirst du für immer bei ihrem Anblick lächeln. Du wirst dann spüren, was für eine Kraft in ihnen steckt und du wirst mutiger."
Gänseblümchen im Bauch und deren Sonne im Herzen - fand ich toll. Also aß ich eins! Und was geschah mit mir?
In lieber Erinnerung
Seit dieser Begegnung nahm meine Nachbarin mich mit auf ihre Spaziergänge. Ich durfte viele Pflanzen und deren Geschichten kennenlernen.
Wenn ich mit ihr unterwegs war, vergaß ich die Zeit und vor allem meine kindlichen Sorgen. Bevor sie mich abends nach Hause begleitete, aßen wir immer ein Gänseblümchen. Wenn ich dann in meinem Bett lag, fühlte ich mich leicht von der frischen Luft und den tollen Abenteuergeschichten. Mir war es warm ums Herz. Nach meiner damaligen Überzeugung war dafür natürlich das gegessene Gänseblümchen verantwortlich!
Zufall?
Jene Frau mit ihren schönen Erzählungen legte den Samen der Naturliebe in mein Herz, welcher zu einem Baum heran wuchs und inzwischen Früchte trägt.
Als sie in mein Leben trat, war sie so alt - wie ich es jetzt bin.
Einladung
In der Erinnerung an sie lacht mein Herz und in meiner (Kinder)Seele fängt eine kleine Sonne an zu leuchten. Mein inneres Kind und ich nehmen uns an die Hand und gehen gemeinsam Gänseblümchen essen und wer möchte, darf gerne mitkommen!
Ihre
Claudia Kodet